Text Aktienkurven

Belinda Grace Gardner
AKTIENKURVEN – KURVEN IM QUDRAT

im Katalog KUNST GELD CARMEN OBERST EDITION ART LEXIKON 2

,,Bomben auf Bagdad = Boom an der Börse?“Diese Frage stellt Wall-Street-Korrespondent Martin Halusa in Die Welt vom 24. März 2003. Der Einmarsch der alliierten Truppen im Irak bringt – so zynisch es klingen mag – den Aktienmarkt kurzfristig in Schwung. Doch Kenner antizipieren schon einen gegenläufigen Trend, so sich die Meldungen vom Kriegsschauplatz verdüstern. Ein komplizierter und langwieriger Verlauf werde sich negativ auf das „ Klima“ des Aktien-Business niederschlagen.

Als „Stimmungskurven“ spiegeln die Diagramme der globalen Ökonomie das politische Geschehen wider. Das gezackte Auf und Ab der Kursbarometer überträgt sich auch auf die Befindlichkeit des individuellen Anlegers, entscheidet es doch über persönlichen Gewinn oder Verlust. Das Drama um Höhenflüge und Abstürze spielt sich indes in der schwer zugänglichen, virtuellen Sphäre des Datentransfers ab. Jene Aktienkurven stehen symbolhaft für ein komplexes, weltumspannendes Geschäft, in dem der Geldfluss als immaterielle Handelsmasse zwischen aktuellem und zukünftigem Wert oszilliert.

Für das von Carmen Oberst initiierte Ausstellungsprojekt KUNSTGELD in der Kunststätte Bossard, Jesteburg, greift Gabriele Adey das Symbol ökonomischer Wellenbewegungen auf. Als Ausgangsmaterial dienen ihr sogenannte DAX-Wochenkurven, wie sie im Wirtschaftsteil von Zeitungen zu finden sind: Ihr Verlauf ist innerhalb eines quadratischen Koordinatenkreuzes fixiert, bestehend aus einer Zeitachse von fünf Werktagen und einer Wertachse, die als Punkteskala in 10er- oder 50er-Schritten bemessen ist. Gabriele Adey löst diese Kurvenverläufe aus ihrem ursprünglichen Kontext und überträgt sie in die Dreidimensionalität geheimnisvoll leuchtender Lichtobjekte.

Wie bereits bei ihren früheren Arbeiten stützt sich die Hamburger Künstlerin bei ihrer aktuellen Serie auf Fundstücke aus dem Alltag: Die der Zeitung entnommenen Kurven sind formale Readymades, gestalterische Impulse, die durch Isolierung und Umwandlung in einen anderen Zustand versetzt werden. Der Ansatz, eine bestehende reale Form durch Dekontextualisierung frei zu setzen, zieht sich durch Gabriele Adeys Bilder- und Objektserien hindurch. Zuvor beschränkte sich die Künstlerin meist auf objektimmanente geometrische Formen. Nun erweitert sie ihr Repertoire um ein Gestaltungselement von – wie sie sagt „expressiver Ausdruckskraft“ – dessen Dynamik von übergeordneten Prozessen der Wertschöpfung abhängt.

Dennoch bleibt sie bei ihrem Prinzip einer Reduktion des Vorgefundenen auf das Wesentliche. Eine Vorgehensweise, die den konkreten Gegenstand in die Abstraktion überführt und für verschiedenste Lesarten öffnet. Auch das Spannungsverhältnis zwischen Konstante und Variation, eine zentrale Komponente ihrer Arbeit, schwingt hier mit.

In ihrer Serie von Kurven setzt sie fünf „Prototypen“ ein, die prägnante Auf- oder Abwärtsverläufe repräsentieren: ,,einfache Zeichen“, so Gabriele Adey, „mit positiver oder negativer Ausrichtung, die allerdings relativ ist zum jeweiligen Aktienindex des gegebenen Zeitrahmens.“ Diese Zeichen, die mal steil nach oben weisen, mal jäh nach unten abfallen und zwischendurch auch die Richtung wechseln, hat die Künstlerin in die Plastizität gebogener Leuchtstoffröhren übersetzt. Die Lichtskulpturen wurden in durchsichtige Acrylglaskästen installiert, die an die quadratische Form der Koordinatenkreuz-Diagramme aus der Börsenwelt angelehnt sind und zugleich auf die immaterielle Qualität des Aktienhandels verweisen. In ihren transparenten Gehäusen wirken die Neonkurven, die in Blau, Orangerot, Grün, Pink und Gelb erstrahlen, als würden sie frei im Raum schweben. Durch die suggestive Farbigkeit und Leuchtkraft wird die technisch-kühle Anmutung der gezackten Kurven konterkariert: Die ohnehin schon beziehungsreichen Zeichen erhalten eine zusätzliche auratische Aufladung.

Gabriele Adey hat ihre Lichtobjekte eigens für die spezifischen Gegebenheiten in der „Kunststätte Bossard“ entwickelt. Der expressionistisch-mythische „Kunsttempel“ in Johann Michael Bossards Jesteburger Gesamtkunstwerk, wo ihre Kurven virtuos platziert sind, ist ein zugleich kongenialer und kontrastiver Standort. Bossard hat seinen theosophisch ausgerichteten „Kunsttempel“ (Baubeginn: 1926) opulent ausgestattet: Die über zehn Meter hohe Halle wird von vier reliefgeschmückten Säulen flankiert. Allegorische Figuren, die für Tag und Nacht stehen, blicken von einer Glasmalerei an der Decke herab. Der Boden ist mit einem Mosaikmuster gestaltet, die Fenster sind von innen bemalt. An den Wänden breiten sich großformatige Gemälde aus: Der Krieg zwischen den Menschen ist dem Kampf des Menschen mit den Naturgewalten gegenüber gestellt. Im Zentrum einer dritten Bildgruppe, die den Weltreligionen gewidmet ist, steht Jesus als Erlöser: Verbildlichung einer Katharsis, die Bossard im Zyklus „Das goldene Zeitalter, da Götter und Menschen in Eintracht gewandelt“ beschworen hat.

Vor dem Hintergrund des sakral durchwirkten Bossard’schen „Kunsttempels“ erscheinen Gabriele Adeys körperlos strahlende Kurven aus der Sphäre des Aktienhandels wie Phantome unserer heute mehr denn je die Welt regiert. Der „immerwährende Auf- und Niedergang der Menschen und ihrer Kulturen“, den Oliver Fok in seiner Einführung zur „Kunststätte Bossard“ als ein Hauptthema ihres Erschaffers hervor gehoben hat, findet im Sinnbild der Aktienkurve eine überraschende, zeitgemäße Korrespondenz: Die in den Lichtskulpturen der Künstlerin nachgezeichneten Berg- und Talfahrten des Börsengeschäfts können – ihrer ursprünglichen Signifikanz enthoben – auch als Diagramme eines kollektiven oder individuellen menschlichen Schicksals angesehen werden: Lebenskurven, in denen der Kreislauf des Werdens und Vergehens eingeschrieben ist. Ihren besonderen Reiz beziehen Gabriele Adeys Lichtkurven aus eben dieser paradoxen Gleichzeitigkeit divergierender Bedeutungen, wo das Profane (die Insignien des „Mammons“) mit tieferen Fragen des menschlichen Seins zusammen fällt. In der überbordenden, inhaltsschweren Bilderfülle des „Kunsttempels“ setzen die formal strengen, dabei verführerisch strahlenden Kurven in mehrfacher Hinsicht aktuelle Akzente. Changierend zwischen der Signalwirkung von Leuchtreklame und dem evokativen Effekt sakraler Gegenstände, schlagen sie optisch den Bogen von Bossards Idee eines (Kunst-)Tempels der inneren Kontemplation und der Heilsutopie hin zu den nach außen gerichteten, elektrisierten Tempeln des Konsums, die in unserer Zeit die Sehnsüchte bündeln. Im Zusammenhang mit Bossards Gemälden von Kampf und Krieg, die wie Menetekel die religiöse Erlösungsszene umrahmen, erhalten Gabriele Adeys Neonzeichen zusätzliche Brisanz.„Wohl selten“, schreibt Beatrix Wirth in Die Welt vom 26. März 2003, ,,sind Militär, Politik und Wirtschaft so eng verwoben wie zu Kriegszeiten. Das gilt auch für die Börse“. Gabriele Adeys Kurven aus farbigem Licht basieren auf Schaubildern, welche die problematische Verquickung von Politik und Wirtschaft, die in Kriegszeiten besonders akut wird, widerspiegeln. Doch sind bei ihren schwebenden Zeichen alle Gewissheiten und Prognosen außer Kraft gesetzt. Die gläsern gefassten Kurvenverläufe unterliegen starken Schwankungen: Je nach Blickrichtung weisen sie steil nach oben oder, umgekehrt betrachtet, in die Tiefe. Somit bergen sie immer schon die eigene Kehrseite, eine Dialektik, in der die polaren Gegensätze als zwei Seiten einer Medaille sichtbar werden.

Belinda Grace Gardner, Hamburg, 2003